Dr. Nommensen: ‚Im Auge der Wirklichkeit‘

Im Auge der Wirklichkeit.

Entwicklungslinien im Werk Rolf Bergmeiers.

In chronologischer Reihenfolge wird eine repräsentative Auswahl einen Einblick geben in die Vielgestaltigkeit und Intensität seines umfangreichen Œuvres.
Bereits vor seinem Studium hat Rolf Bergmeier mit der Aktion Kommando Perle auf sich aufmerksam gemacht. Zentrale Objekte in dieser an verschiedenen Orten durchgeführten Aktion sind 12 kugelrunde Beton-Formen, die mit tierischen Eingeweiden, menschlichen Erbrochenem und Fäkalien gefüllt sind. Im Verlauf der Aktion werden die überdimensionalen Perlen vor jeweils verschiedenen staatlichen Institutionen, wie Polizei, Amtsgericht, Vollzugsanstalt usw. geworfen und damit zerstört.

Vor dem Hintergrund der Bergpredigt, Matthäus 7.6. („Perlen vor die Säue werfen“) nimmt Rolf Bergmeier in dieser Arbeit eine – so der Untertitel der Arbeit „Bearbeitung des latenten Faschismus im Bereich der deutschen Staatsgewalt mit Kunst“ vor. Joseph Beuys bezeichnete diese ungewöhnlichen Unternehmungen als eine der wichtigsten Aktionen im Nachkriegsdeutschland.
Dieser Kommentar der wohl schillerndsten Künstlerpersönlichkeit Europas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutet damit die Scharfsinnigkeit dieser Arbeit an: ihr liegt ein kritisches und gleichermaßen subtiles Erfassen und Interpretieren der oftmals „unsichtbaren“ Wirklichkeit zugrunde.

Während des „Zweiten Symposions Nordseeküste – Thema Wetter“ (20. Okt. – 17. Nov. 1984) setzt sich der Künstler in seiner Arbeit Ansprache an die Weltwetter mit Naturphänomenen auseinander.
Die Ansprache an die Weltwetter, d.h. die Rede an die Naturkräfte, soll nicht ohne Reaktion von Seiten der Angesprochenen bleiben: entgegen aller Vernunft und Wahrscheinlichkeit – die Aktion findet im Monat November statt – erhebt sich eine ablandiger Wind, in der Höhe eines halben Meters über den Boden bildet sich eine Wolke bestehend aus einem Schnee-Sand-Gemisch. In einer Länge von 150 -200m und für mehrere Stunden verläuft diese Wolke durch den Mittelpunkt der vom Künstler durchgeführten Bepflanzungen im Watt.
Auch diese Arbeit lässt erkennen, dass der Künstler weit über den traditionellen Rahmen künstlerischer Tätigkeit hinaus metaphorische Energien zu bündeln versteht.

Im Jahre 1991 setzt sich der Künstler mit dem Golf-Krieg auseinander. In der Ausstellung 16. 1. 91 zeigt er eine Arbeit mit dem Titel Für wen ist die Wahrheit gefährlich hier platziert er Papierstreifen zu einer Spirale von einem Durchmesser von ca. 5m. Das Papier stammt aus Zeitungen, die ihre Leser mit Nachrichten aus dem Golfkrieg versorgt haben. Die beiden Schalen an den jeweiligen Enden der Spiralform enthalten das Blut des Künstlers und rekurrieren auf eine buddhistische Ikonographie: der schwarze Buddha trinkt das Blut der Menschen aus menschlichen Schädelschalen.

Diese Inszenierung einer kultischen Handlung versinnbildlicht die Transzendierung einer Konflikt-Situation; d.h. sie thematisiert grundlegende, immer wiederkehrende menschliche Verhaltensmuster. Konflikt als wesentlicher Bestandteil menschlicher Gesellschaften ist aber nur dann zu lösen, wenn der Mensch im Stande ist, aus sich selbst herauszutreten. Und folgt er dem Ansporn zu einer höheren Bewußtheit, besteht eine Möglichkeit zur Lösung der Auseinandersetzung.

Vor dem Hintergrund, dass einerseits der Umgang mit den Medien während des Golf-Krieges 1991 bis dahin unbekannte Qualitäten offenbart hat und dass andererseits die buddhistische Ethik im Dienste der Selbsterlösung steht, nimmt Rolf Bergmeier mit seiner Arbeit eine denkwürdige Haltung ein.
Bereits diese drei Arbeiten aus dem umfassenden Œuvre Rolf Bergmeiers legen dar, inwieweit seine künstlerische Herangehensweise von beträchtlichem Einfühlungsvermögen gekennzeichnet ist, gepaart mit intelligentem Scharfsinn.

Seiner künstlerischen Intension liegt der Anspruch zugrunde, sich selbst sowie den Betrachter unentwegt mit Fragen an die Wirklichkeit und über dieselbe zu konfrontieren. Diese Fragen ziehen so unterschiedliche künstlerische Antworten nach sich, wie Erscheinungsformen von Wirklichkeiten existieren: Aktionen, Installationen, Objekte, Texte, Fotos, Reden etc.
Der Künstler trägt mit seiner Vorgehensweise jedoch auch der Tatsache Rechnung, dass eine Konstituierung von Wirklichkeit in jenem Moment obsolet ist, in dem sie geschaffen wird. In der Folge bedeutet dies, dass eine einmal dargelegte künstlerische Formulierung ihrem Schicksal preisgegeben wird: entweder hat das Werk in, mit oder gegen die Natur zu bestehen; eine einmal gefundene Bild- oder Objektsprache wird nicht wiederholt oder in ähnlicher Weise aufgegriffen, Aktionen behalten ihren einmaligen Charakter.

Weniger das Scheitern zwingt den Künstler, neue Wege zu gehen – viele Werkphasen hat der Künstler trotz und nicht aufgrund fehlenden Erfolges eingestellt -, als vielmehr ein tiefes Mißtrauen gegenüber der sogenannten Wirklichkeit.
Seit 1997 innerviert er die Wirklichkeit mittels einer ungewöhnlichen Objektsprache: hinter der Werkbezeichnung Öl auf Holz verbergen sich gerippenartige Körper, die aus zusammengefügten, mit Öl bemalten Baumästen bestehen. In differenzierter Weise schafft der Künstler Objekte, die aus keiner Blickperspektive ihre Harmonie und Ausgewogenheit vermissen lassen. Insbesondere der Hohlraum des quaderförmigen, von allen Seiten betrachtbaren Objektes übt eine besondere Magie aus: Die organische Struktur der gegenüberliegenden netzartig verstrebten Wände verleiht dem Innenraum eine besondere Dynamik. Der Raum verwandelt sich in ein Energiefeld, das sich je nach Perspektive des Betrachters neu ausrichtet.

Diese Arbeiten verlangen nach einem Vergleich mit den Drip Paintings von Jackson Pollock, deren polyfokale, labyrinthisch verschlungene Liniennetze eine sphärische Räumlichkeit evozieren. Rolf Bergmeier geht mit Öl auf Holz über die aperspektivische Bildwelt Pollocks hinaus, indem er den „Abstrakten Expressionismus“ des Amerikaners um eine weitere Dimension erweitert. Die „tatsächliche“ Durchlässigkeit der gewundenen Linien- bzw. Ast-Arabesken setzt den Betrachter der Energetik des Raumes leibhaftig aus. Die ausgewogene Dreidimensionalität der Objekte trägt einen wichtigen Teil hierzu bei; sie ist letztendlich verantwortlich dafür, dass von den Objekten eine nahezu magische Ausstrahlung ausgeht.

Dieses Phänomen wiederum steht in engem Bezug zu der Auseinandersetzung des Künstlers mit der sogenannten Wirklichkeit. In eindrucksvoller Weise führt er mit seinen Objekten vor, dass Wirklichkeit so variabel und temporär ist, wie die wechselnden Perspektiven des Betrachters. Der leere Raum, der je nach Blickwinkel seinen Daseinszustand ändert, wird zur Metapher von Wirklichkeitsauffassung.
Ausschließlich der individuelle Zugang zur undefinierten Leere gewährleistet die potentielle Anwesenheit einer „Wirklichkeit“ fern der Alltagswirklichkeit. Rolf Bergmeier erschafft eine polyfokale Wirklichkeit, die Bewußtwerdungschimären einer über-individuellen Wirklichkeitserfassung evoziert.

Auch vor dem Hintergrund der Änderungen der gesellschaftlichen und politischen Umbrüche der letzten 10 Jahren in Europa und in Anbetracht der destabilen weltpolitischen Situation liefert das Werk Rolf Bergmeiers einen unverzichtbaren Beitrag zum kritisch-künstlerischen und philosophischen Diskurs. Er verweist mit allem Nachdruck darauf, dass man dem Alltag – die einer Schimäre gleichenden Wirklichkeit – nicht den Wert zubilligen soll, den er gemeinhin erfährt. Will man kompetent und angemessen auf den Alltag reagieren, dann sollte man die „höhere Wirklichkeit“ anstreben. Insbesondere die Arbeiten Öl auf Holz versprechen für das künftige Werk eine einzigartige Auseinandersetzung mit dem Phänomen, das jedem Mensch vertraut ist, es aber nie zu fassen bekommt.

Hamburg, Februar 2003
Dr. Sven Nommensen