Dr. Iris Simone Engelke, Gespräche mit Bergmeier 2016 – 2017

Erstveröffentlicht im Katalog:

Als die Götter die Zeit gemacht haben, haben sie genug davon gemacht“

Shan Fan + Rolf Bergmeier

Nichts ist so sehr mit der Ewigkeit verbunden wie der Moment – die Natur versucht nicht zu reproduzieren.“

Rolf Bergmeier

Iris Engelke (IE): Rolf Bergmeier, Du hast den Happening-Charakter früherer Werke längst überwunden. Deine Arbeiten entstehen seit den 90er Jahren in Phasen großer Zurückgezogenheit, wie in einer Klausur.

Wenn ich sie mit einem Satz beschreiben sollte, würde ich sie als schwebend und gleichermaßen konzentriert bezeichnen, charakterisiert von Präsenz und Leichtigkeit zugleich, vordergründig betrachtet eine Widersprüchlichkeit.

Gerade das Weggelassene erlangt Präsenz, wie schaffst Du das?

Rolf Bergmeier (RB) lachend: Ja, meine Arbeiten hängen vorwiegend. Es gibt Boden- und Wandarbeiten und manche hängen von der Decke an feinen Stahlseilen. Dann sieht es so aus, als würden sie schweben.

Das wünscht sich ja jeder Künstler, also jeder Bildhauer, dass seine Arbeit fliegen kann.

Aber der Weg bis zu der Werkserie „Öl auf Holz“ war ein langer Prozess des Suchens.

Ich habe mich aufs Land zurückgezogen, war viel in der Natur, joggen im Wald. Ich suchte nach Materialien, die man selbst auf dem Land nicht mehr benutzen wollte und das waren Äste, die am Straßenrand lagen, weil man dort Bäume beschnitten hatte, so dass die LKWs ungehindert vorbei fahren konnten.

Diese Äste wurden weggeworfen und dann zu meinem Material. Ich habe es erst nicht klar formulieren können. Anfangs habe ich nichts von der Arbeit verstanden – ich wusste nur, je länger ich mich damit auseinander setzte, umso spannender wurde sie. Es ist ja so: ein Bild sollte die Klappe halten, aber wenn man es fragt, sollte es antworten. (…) Wenn man komplexere und tiefer gehende Fragen hat, muss das Werk es auch beantworten können.

Sonst ist es nach meinem Dafürhalten keine Kunst, sondern ein Kultur reflektives Vorgehen.

 

IE: Ein wichtiger Aspekt Deiner Kunst bezieht sich also direkt auf Natur? In welcher Weise?

RB: Genau, es sind Baumäste, verschiedene Querschnitte, verschiedene Baumarten. Und es sind Astgabeln und gebogene Äste.

Es ist allesamt gesundes Holz, das frisch geschnitten wurde. Und es ist eines der beiden Hauptmaterialien, mit denen ich arbeite. Ich arbeite mit Zitaten aus der Natur, aus der Sprache der Natur und mit Raum.

Das sind meine beiden wichtigsten Materialien. Diese Baumäste stammen aus der Sprache der Natur, wie sie seit Jahrmilliarden von der Natur verwendet wird. Und was ich extrem spannend finde, ist, dass es niemals eine Wiederholung gibt. Wie die Variationen funktionieren, das ist mir schon klar, das kann man auch mathematisch ausdrücken. Erste, zweite Feigenbaum-Konstante, aber wie es funktioniert, dass es absolut wiederholungslos bleibt, das ist mir nicht klar. Das finde ich hochgradig faszinierend.

Ich zitiere sozusagen aus der Kreativität selber.

Die Natur hat ein Potenzial, das ich jenseits von Zeit und Raum „verorte“, das unendliche Kreativität ist.

Und wie gesagt interessanterweise: wiederholungslose Kreativität. Erst einmal ist es so, dass ich nicht logisch vorgegangen bin, sondern ich habe mich irgendwann einmal bemüht, absichtslos bildnerisch zu forschen. Dann ist mir aufgefallen, dass die Aspekte in meinen Bildern, denen eine Bildabsicht zugrunde liegt, am ehesten langweilig werden. Und die Aspekte, die spielerisch, aus Versehen entstanden sind, eine hohe und sanfte Bildintensität hatten, und diese sind mit der Zeit eher interessanter geworden.

IE: Da schwingt etwas Unmittelbares, Vorkulturelles mit oder?

RB: Schon, ich arbeite aus einem Zeichenfundus heraus, von dem ich behaupte, dass er in nahezu allen Kulturen Inspiration für frühe Schriftsysteme gewesen ist. Das bedeutet eben auch, dass frühe Menschen einen Teil ihrer bewussten Beziehung zum Wirklichen, sowohl in sich selber als auch ausserhalb von sich selber, über solche Zeichen organisiert haben. Das sind dann magische Runen gewesen bei den Hiesigen. Im chinesischen Raum wird meine Arbeit total anders verstanden als hier. Wenn die Leute sich dort um die Arbeit herum bewegen, können sie darin zum Teil von einer Seite etwas lesen, von einer anderen etwas anderes. (…) Im chinesischen Kontext sieht man das als einen urchinesischen Ansatz.

IE: Liegt darin dann kein Widerspruch, dass das mit Schrift zu hat und damit ja auch mit Bedeutung, also mit Benennung?

RB: Ja, auch mit Konditionierung von Bewusstsein. Das heißt, das ist ein kulturhistorischer Bezug,

der auf die ersten Kultur bildenden Schritte verweist, als Leute angefangen haben, sich mit Zeichen und Lauten zu unterhalten. Es verweist auch auf den Zusammenhang, dass über Schrift und Begrifflichkeiten Bewusstsein organisiert oder aber auch überlagert wird. Ich versuche es noch einmal, präziser zu fassen. Als Künstler bin ich ja immer damit beschäftigt, in dem Moment, wenn ich arbeite, den vollständigen kulturellen Kontext zu negieren. Das setze ich im Werk auch ganz bewusst als bildnerisches Mittel ein.

Ich begebe mich nämlich schlicht an den Anfang der Kultur, da wo Zeichen, die die frühen Menschen in der Natur zu sehen glaubten, mit Emotionen, Hoffnungen, Ängsten in Verbindung gebracht wurden. Möglicherweise waren es magische Zeichen, die die ersten Schriftzeichnungen waren. Schrift ist dann, denke ich, unbestreitbar die wesentlichste Voraussetzung für eine Kulturbildung.

IE: Der Philosoph Jean Gebser benutzte auch den Begriff des magischen Bewusstseins und sah den Menschen in seiner Evolution vom magischen hin zum integralen Bewusstsein. Da kommen wir der Sache wieder näher.

RB: Das ist das eine Ende, das ich formal in meiner Arbeit markiere. Das andere Ende ist der innere Raum.

Ich arbeite mit sehr strengen Innenformen und damit rekuriere ich auf die Plastik der Moderne mit ihren strengen, geometrischen, berechenbaren, industriell herstellbaren Aspekten. Auf diese sehr strengen Ordnungsprinzipien in der Plastik der Moderne nehme ich schon ganz bewusst Bezug.

Und darüber setze ich dann die Sprache der Natur, oder ich nehme es mir aus der Buchstabensuppe

der Natur und organisiere das dann neu. Dann nehme ich die Moderne heraus und lasse an dieser Stelle eine Leerstelle entstehen.

Etwas, das so sehr nichts ist, dass es sich auf den Raum an sich bezieht.

IE: Mit der Moderne nimmst Du wahrscheinlich auch Bezug auf das Bauhaus und ich würde noch gerne den mentalen Quantensprung erwähnen, den Malewitsch mit seinen suprematistischen Bildern markiert und mit denen er die westliche Kunst des 20. Jahrhunderts revolutioniert hat.

Er lehnte einen Naturbezug in seiner Kunst strikt ab.

RB: In der ersten Arbeit, die ich mit Ästen realisiert habe, die dann damals auch im Museum Schloss Salder hing, habe ich ganz genau Bezug genommen auf Malewitschs Werk „Schwarzes Quadrat“. In den Innenraum dieser Arbeit hätte mein Werk genau reingepasst.

Ich habe aus Styropor die Abmessungen dieses Bildes geformt (80x80x7) und dann darum eine Ästestruktur gearbeitet.

 

IE: Du machtest ein Tafelbild zu einer Plastik?

RB: Für mich ist der Bildträger ein plastisches Objekt und gehört untrennbar zum Bild dazu.

Ich bin damals schlicht von 7 cm [Tiefe] ausgegangen, weil ich die genaue Zahl ja nicht heraus finden konnte. Dementsprechend habe ich einen Styroporkörper gebastelt und um diesen habe ich meine Ästestruktur angelegt. Abschließend habe ich dann dieses dreidimensionale Zitat heraus genommen, so dass der Innenraum frei wurde.

Damit ist der Raum selber zum Gegenstand der Betrachtung geworden. Ich habe den historischen Bezug nur noch als Negativform, als verlorene Form. Da ist mir zunächst aus Versehen etwas passiert, was für die Rezeption meiner Arbeit, bei der es auf die intuitive Wahrnehmungsebene geht,

extrem wichtig ist. Bei Plastiken war bis dahin immer das Außen perfekt, und das Innen konnte man meistens gar nicht sehen.

Und es war eben nicht perfekt. Bei mir ist es so, dass das Innen perfekt ist und das Außen nicht. Das bedeutet, jemand, der meine Arbeiten sieht, nimmt auf einer Instinktebene wahr, dass da drinnen ein präziser geometrischer Körper sein müsste.

Auf einer intellektuellen Ebene wird eine Äste-Struktur wahrgenommen, die aber nach außen hin unpräzise ist.

Das heißt, der Intellekt ist eigentlich gar nicht dafür gemacht, solche Strukturen wahrzu- nehmen.

Auch der Instinkt ist nicht dafür gedacht und hat da eben auch seine Schwäche, solche geometrischen Körper wahrzunehmen.

Das heißt: ich habe zwei divergierende Wahrnehmungsebenen an ihrer schwächsten Stelle angesprochen.

Dadurch entsteht manchmal, bei wenigen Betrachtern, etwas, das sie in einen Ausnahmezustand versetzt. Ein kontemplativer Ausnahmezustand, in dem eine nicht intellektuelle Auseinandersetzung mit den Dimensionen, aus denen heraus ich arbeite, stattfindet: eine Begegnung.

Das ist es, was mich interessiert.

IE: Ja, man kommt als Betrachter nicht umhin, sich mit dem nicht Vorhandenen, dem nicht Fassbaren, dem Unendlichen zu beschäftigen.

RB: Das Endliche als Gegenstand der Betrachtung wird durch das Unendliche relativiert.

Sinngemäß fasst dieser Satz von Friedrich Schlegel meine bildnerische Grundintention zusammen.

Damit lässt sich meine Arbeit in der Philosophie der deutschen Frühromantik, dieser Notwehrreaktion auf die Aufklärung, verorten. Ich glaube schon, dass eine kompositorische Verdichtung ein höheres Potenzial und stärkere Bildkraft hat, wenn man eine poetische Verdichtung vornimmt – wenn man sich darauf einlässt.

IE: Da spielt der Faktor Zeit eine große Rolle, wie sollte sich sonst auch auch etwas ereignen können? Ebenso bist Du zu Deiner jüngeren Werkserie gekommen, die Du mit „Rainbow in Dark“ (Regenbogen im Dunkeln) betiteltst. Was hat es damit auf sich? Auf den ersten Blick scheinen Deine Werke noch immer nicht sehr farbig.

RB: Das kam mir als ich für längere Zeit in meiner kleinen Dunkelkammer gesessen habe.

Ich sollte für einen Ort namens Santa Lucia in Venezuela eine Ausstellung kuratieren, die etwas mit dem Ort zu tun haben sollte.

Da ich den Ort nicht kannte, und es kein Reisebudget gab, habe ich nachgelesen, was es mit Santa Lucia auf sich hat. Es ging also um eine Frau, die sich selbst die Augen heraus genommen hat, um nicht zwangsverheiratet zu werden. Sie war eine christliche Märtyrerin und wurde dann später heilig gesprochen. (…) Eigentlich ist das ja für die Kunst total spannend, weil der Sehsinn für die Kunst der wichtigste Sinn überhaupt ist. Dann habe ich mir gedacht, versuche einmal heraus zu finden – ohne die Schmerzerfahrung und auch reversibel -, wie das wäre, nichts zu sehen. Ich habe mir eine Augenbinde gebastelt, mich ins Dunkle gesetzt und gewartet, was passieren würde.

Zuerst kamen die Gedanken in Schwung, aber nach einer Zeit kam eine ganz große Ruhe. Nach zirka zwei Stunden war es richtig ruhig. Das war für mich damals überraschend. Ich habe vorher nie über Abstinenz von Sinnen in der Kunst nachgedacht. Diese Ausstellung hieß dementsprechend „Silent position“.

IE: Die Erfahrung der Abstinenz vom Sehsinn hat Dich aber danach nicht losgelassen?

RB: Genau, ich habe mich dann für längere Zeit in eine Art Kiste gesetzt. Daraufhin sind irgendwann Farbwahrnehmungen gekommen und alles mögliche an emotionalem Zeug.

Aber mich interessierten besonders die Farbwahrnehmungen. Dann hat sich mir die Frage gestellt, was bitte ist das?

Ist das so, dass hier der Geist anfängt zu spinnen, oder hat das eine Realität? Das finde ich wiederum extrem spannend für meine Kunst, denn so habe ich noch einmal einen ganz anderen Aspekt der Frage an die Wirklichkeit gefunden. Mir geht es ja um einen Zugang zur Wirklichkeit.

Bei diesem Aspekt geht es um eine malerische Frage, aber wenn es Realität ist, kann es für mich nicht darum gehen, es nachzumalen. Das könnte ich sowieso nicht.

IE: Aber Du hast versucht, Deine Erfahrung im Dunkelraum für den Betrachter aufscheinen zu lassen.

RB: Ja, und ich hoffe, dass es so sein wird, dass die Arbeit von weitem Weiß oder Schwarz aussieht und wenn man näher herangeht, es überraschenderweise farbiger wird. Ich taste mich da noch heran. Schon meine Kunstlehrerin in der Grundschule, Frau Grütter, sagte, dass Schwarz und Weiß keine Farben seien, sondern Erscheinungen des Lichts.

Das fand ich damals eine steile These. Der Gedanke hat mich aber sehr beschäftigt.

Eine neue Frage an meine plastische Arbeit ist also zur Zeit: was ist denn eigentlich Wirklichkeit?

Das heißt, ich bin noch einmal in dem Status des Unwissens angekommen und da fühle ich mich eigentlich ganz wohl (lacht).

Nina Lola Bachhuber

„Bergmeiers ‚Öl auf Holz‘ Arbeiten sind Membranen ihrer eigenen
inneren und äußeren Zustände, Membranen zwischen den
Phänomenen der Leere und den Phänomenen der Fülle.“

Gunnar FF. Gerlach

„Mit den Raum-Bild-Objekten „Öl auf Holz“ demonstriert Bergmeier
seinen bifokalen Blick für das künstlerische Verhältnis von Form
und Inhalt.“

Izabela Heinrich

Wydawac by sie moglo, ze dzielo Bergmeiera to cokolwiek dziwna kombinacja natury i matematyki, …
(Es scheint, daß das Werk Bergmeiers eine merkwürdige Kombination von Natur und Mathematik wäre,…)

Rik Reinking

„Rolf Bergmeier gelingt es sich in seinen Skulpturen völlig heraus
zu nehmen und zugleich ganz und gar präsent zu sein.
Er arbeitet mit einem natürlich gewachsenen Material und ohne dessen
Herkunft zu leugnen, setzt er ihm seine menschlichen Vorstellungen
von Raum und Maßeinheit in Form von Quadern und Kuben auf.
Auf diese Weise zeigt er einen spannenden und respektvollen Dialog
mit der Natur. Es gelingt ihm die – lange Zeit als unvereinbar geltenden –
Konzepte amerikanischer ‚Rationalität‘ und der europäischen
‚Emotionalität‘ zu vereinbaren.“

Dr. Nommensen: ‚Im Auge der Wirklichkeit‘

Im Auge der Wirklichkeit.

Entwicklungslinien im Werk Rolf Bergmeiers.

In chronologischer Reihenfolge wird eine repräsentative Auswahl einen Einblick geben in die Vielgestaltigkeit und Intensität seines umfangreichen Œuvres.
Bereits vor seinem Studium hat Rolf Bergmeier mit der Aktion Kommando Perle auf sich aufmerksam gemacht. Zentrale Objekte in dieser an verschiedenen Orten durchgeführten Aktion sind 12 kugelrunde Beton-Formen, die mit tierischen Eingeweiden, menschlichen Erbrochenem und Fäkalien gefüllt sind. Im Verlauf der Aktion werden die überdimensionalen Perlen vor jeweils verschiedenen staatlichen Institutionen, wie Polizei, Amtsgericht, Vollzugsanstalt usw. geworfen und damit zerstört.

Vor dem Hintergrund der Bergpredigt, Matthäus 7.6. („Perlen vor die Säue werfen“) nimmt Rolf Bergmeier in dieser Arbeit eine – so der Untertitel der Arbeit „Bearbeitung des latenten Faschismus im Bereich der deutschen Staatsgewalt mit Kunst“ vor. Joseph Beuys bezeichnete diese ungewöhnlichen Unternehmungen als eine der wichtigsten Aktionen im Nachkriegsdeutschland.
Dieser Kommentar der wohl schillerndsten Künstlerpersönlichkeit Europas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutet damit die Scharfsinnigkeit dieser Arbeit an: ihr liegt ein kritisches und gleichermaßen subtiles Erfassen und Interpretieren der oftmals „unsichtbaren“ Wirklichkeit zugrunde.

Während des „Zweiten Symposions Nordseeküste – Thema Wetter“ (20. Okt. – 17. Nov. 1984) setzt sich der Künstler in seiner Arbeit Ansprache an die Weltwetter mit Naturphänomenen auseinander.
Die Ansprache an die Weltwetter, d.h. die Rede an die Naturkräfte, soll nicht ohne Reaktion von Seiten der Angesprochenen bleiben: entgegen aller Vernunft und Wahrscheinlichkeit – die Aktion findet im Monat November statt – erhebt sich eine ablandiger Wind, in der Höhe eines halben Meters über den Boden bildet sich eine Wolke bestehend aus einem Schnee-Sand-Gemisch. In einer Länge von 150 -200m und für mehrere Stunden verläuft diese Wolke durch den Mittelpunkt der vom Künstler durchgeführten Bepflanzungen im Watt.
Auch diese Arbeit lässt erkennen, dass der Künstler weit über den traditionellen Rahmen künstlerischer Tätigkeit hinaus metaphorische Energien zu bündeln versteht.

Im Jahre 1991 setzt sich der Künstler mit dem Golf-Krieg auseinander. In der Ausstellung 16. 1. 91 zeigt er eine Arbeit mit dem Titel Für wen ist die Wahrheit gefährlich hier platziert er Papierstreifen zu einer Spirale von einem Durchmesser von ca. 5m. Das Papier stammt aus Zeitungen, die ihre Leser mit Nachrichten aus dem Golfkrieg versorgt haben. Die beiden Schalen an den jeweiligen Enden der Spiralform enthalten das Blut des Künstlers und rekurrieren auf eine buddhistische Ikonographie: der schwarze Buddha trinkt das Blut der Menschen aus menschlichen Schädelschalen.

Diese Inszenierung einer kultischen Handlung versinnbildlicht die Transzendierung einer Konflikt-Situation; d.h. sie thematisiert grundlegende, immer wiederkehrende menschliche Verhaltensmuster. Konflikt als wesentlicher Bestandteil menschlicher Gesellschaften ist aber nur dann zu lösen, wenn der Mensch im Stande ist, aus sich selbst herauszutreten. Und folgt er dem Ansporn zu einer höheren Bewußtheit, besteht eine Möglichkeit zur Lösung der Auseinandersetzung.

Vor dem Hintergrund, dass einerseits der Umgang mit den Medien während des Golf-Krieges 1991 bis dahin unbekannte Qualitäten offenbart hat und dass andererseits die buddhistische Ethik im Dienste der Selbsterlösung steht, nimmt Rolf Bergmeier mit seiner Arbeit eine denkwürdige Haltung ein.
Bereits diese drei Arbeiten aus dem umfassenden Œuvre Rolf Bergmeiers legen dar, inwieweit seine künstlerische Herangehensweise von beträchtlichem Einfühlungsvermögen gekennzeichnet ist, gepaart mit intelligentem Scharfsinn.

Seiner künstlerischen Intension liegt der Anspruch zugrunde, sich selbst sowie den Betrachter unentwegt mit Fragen an die Wirklichkeit und über dieselbe zu konfrontieren. Diese Fragen ziehen so unterschiedliche künstlerische Antworten nach sich, wie Erscheinungsformen von Wirklichkeiten existieren: Aktionen, Installationen, Objekte, Texte, Fotos, Reden etc.
Der Künstler trägt mit seiner Vorgehensweise jedoch auch der Tatsache Rechnung, dass eine Konstituierung von Wirklichkeit in jenem Moment obsolet ist, in dem sie geschaffen wird. In der Folge bedeutet dies, dass eine einmal dargelegte künstlerische Formulierung ihrem Schicksal preisgegeben wird: entweder hat das Werk in, mit oder gegen die Natur zu bestehen; eine einmal gefundene Bild- oder Objektsprache wird nicht wiederholt oder in ähnlicher Weise aufgegriffen, Aktionen behalten ihren einmaligen Charakter.

Weniger das Scheitern zwingt den Künstler, neue Wege zu gehen – viele Werkphasen hat der Künstler trotz und nicht aufgrund fehlenden Erfolges eingestellt -, als vielmehr ein tiefes Mißtrauen gegenüber der sogenannten Wirklichkeit.
Seit 1997 innerviert er die Wirklichkeit mittels einer ungewöhnlichen Objektsprache: hinter der Werkbezeichnung Öl auf Holz verbergen sich gerippenartige Körper, die aus zusammengefügten, mit Öl bemalten Baumästen bestehen. In differenzierter Weise schafft der Künstler Objekte, die aus keiner Blickperspektive ihre Harmonie und Ausgewogenheit vermissen lassen. Insbesondere der Hohlraum des quaderförmigen, von allen Seiten betrachtbaren Objektes übt eine besondere Magie aus: Die organische Struktur der gegenüberliegenden netzartig verstrebten Wände verleiht dem Innenraum eine besondere Dynamik. Der Raum verwandelt sich in ein Energiefeld, das sich je nach Perspektive des Betrachters neu ausrichtet.

Diese Arbeiten verlangen nach einem Vergleich mit den Drip Paintings von Jackson Pollock, deren polyfokale, labyrinthisch verschlungene Liniennetze eine sphärische Räumlichkeit evozieren. Rolf Bergmeier geht mit Öl auf Holz über die aperspektivische Bildwelt Pollocks hinaus, indem er den „Abstrakten Expressionismus“ des Amerikaners um eine weitere Dimension erweitert. Die „tatsächliche“ Durchlässigkeit der gewundenen Linien- bzw. Ast-Arabesken setzt den Betrachter der Energetik des Raumes leibhaftig aus. Die ausgewogene Dreidimensionalität der Objekte trägt einen wichtigen Teil hierzu bei; sie ist letztendlich verantwortlich dafür, dass von den Objekten eine nahezu magische Ausstrahlung ausgeht.

Dieses Phänomen wiederum steht in engem Bezug zu der Auseinandersetzung des Künstlers mit der sogenannten Wirklichkeit. In eindrucksvoller Weise führt er mit seinen Objekten vor, dass Wirklichkeit so variabel und temporär ist, wie die wechselnden Perspektiven des Betrachters. Der leere Raum, der je nach Blickwinkel seinen Daseinszustand ändert, wird zur Metapher von Wirklichkeitsauffassung.
Ausschließlich der individuelle Zugang zur undefinierten Leere gewährleistet die potentielle Anwesenheit einer „Wirklichkeit“ fern der Alltagswirklichkeit. Rolf Bergmeier erschafft eine polyfokale Wirklichkeit, die Bewußtwerdungschimären einer über-individuellen Wirklichkeitserfassung evoziert.

Auch vor dem Hintergrund der Änderungen der gesellschaftlichen und politischen Umbrüche der letzten 10 Jahren in Europa und in Anbetracht der destabilen weltpolitischen Situation liefert das Werk Rolf Bergmeiers einen unverzichtbaren Beitrag zum kritisch-künstlerischen und philosophischen Diskurs. Er verweist mit allem Nachdruck darauf, dass man dem Alltag – die einer Schimäre gleichenden Wirklichkeit – nicht den Wert zubilligen soll, den er gemeinhin erfährt. Will man kompetent und angemessen auf den Alltag reagieren, dann sollte man die „höhere Wirklichkeit“ anstreben. Insbesondere die Arbeiten Öl auf Holz versprechen für das künftige Werk eine einzigartige Auseinandersetzung mit dem Phänomen, das jedem Mensch vertraut ist, es aber nie zu fassen bekommt.

Hamburg, Februar 2003
Dr. Sven Nommensen

Dr. Nommensen: ‚Rhizom‘

„…was in Wirklichkeit nicht darstellbar ist, weil es ein Rhizom ist, eine unvorstellbare Globalität.“[1]
Umberto Eco
1. „Öl auf Holz“ – Grundsätzliches

„Öl auf Holz“ – der Titel lenkt den Fokus zunächst auf die charakteristische Eigenart von Rolf Bergmeiers Werkreihe: Es handelt sich um gewebeartig zusammengesetzte, mit schwarzer Ölfarbe bemalte Astfragmente, die einen geometrischen Raum umgrenzen.

„Öl auf Holz“ – der Titel spielt darüber hinaus auf eine Maltechnik an: Im Zeitraum des 13.-16. Jahrhunderts bedienten sich die Maler vornehmlich einer weit verbreiteten Technik der Bildherstellung, die darin bestand, daß sie die mit dem Bindemittel Öl gebundenen Farbpigmente – also die Ölfarben – auf den Bildträger Holztafel auftrugen. Die verkürzte Chiffre für diese Materialkombination lautet: „Öl auf Holz“. Nachfolgend löste die Leinwand das Holz ab und ist bis heute der gängigste Bildträger in der Malerei. Rolf Bergmeier stellt diesen Terminus in ein neues Licht: er überträgt die Methode „Öl auf Holz“ auf die Plastik. Folgerichtig spricht der Künstler vom „dreidimensionalen Malen“.

„Öl auf Holz“ – diesen Plastiken liegt ein über Jahre entwickeltes Herstellungsverfahren zugrunde. Ausgangspunkt ist ein geometrischer Styroporkörper, dessen Gestalt zwischen Würfel, Quader, verschiedenen Rechtecken und Ovaloid variiert. Um diesen, während der Produktionsphase als Innenraum fungierenden, Körper herum wird das Astgeflecht angelegt und verleimt. Der Arbeitsvorgang wird fortgesetzt, indem auf der gesamten Oberfläche dieses Korpus‘ zunächst zeichnerisch jene Strukturen festgelegt werden, in der die Äste nachfolgend angeordnet bzw. befestigt werden sollen.[2]

Bei der Komposition des Lineamentes berücksichtigt der Künstler mehrere Faktoren. Zum einen legt er Wert auf ein ausgewogenes Verhältnis von Harmonie und Disharmonie der jeweils zeichnerisch angelegten Gewebe; zum anderen antizipiert er, wie sich die Astgewebe bei der Betrachtung der jeweils gegenüberliegenden und der angrenzenden Seiten übereinander schieben und in eine neue Komposition münden. Freilich ist der Innenraum bzw. der Styroporkörper in dieser Phase noch vollplastisch, so daß der Künstler in erster Linie sein Vorstellungsvermögen auf die Kombinationsmöglichkeiten aller in Beziehung stehender Geflechtseiten anwenden muss. Neben dieser Dimension stellt er noch eine weitere in Rechnung, wenn er einkalkuliert, daß sich der Standpunkt des Betrachters vor den Plastiken ändert und damit auch die Gesamtkomposition der übereinander schiebenden Lineamente variiert. Entsprechend des Verlaufes der Linien werden nun Äste in der passenden Form ausgewählt, gegebenenfalls entsprechend gesägt und zusammengeleimt.


[1] Umberto Eco: Nachschrift zum Namen der Rose, München 1987, S. 65
[2] Skizzen und Entwürfe während der Entwicklungsphase der Plastiken bilden die Ausnahme; detaillierte Zeichnungen oder Konstruktionszeichnungen fertigt der Künstler nicht an.


Stabilität erhalten die zusammengefügten Äste durch bis zu fünf Zentimeter lange Holzstifte, mit denen jeweils die Stirnseiten zweier Astfragmente unter Verwendung eines Spezialleimes verbunden werden.
Wenn Hölzer „einen anderen Weg vorgeben“, wie der Künstler selbst sagt, wenn also ein Ast eine bemerkenswerte Form aufweist, die es lohnt aufzunehmen, können vorgezeichnete Pfade auch ausgeschlagen und Äste verwendet werden, die vom bereits bestehenden Lineament abweichen. Der Künstler läßt sich demzufolge auch vom Werkstoff, von den Ästen inspirieren. Mit diesem Schritt wird die bereits gezeichnete Struktur revidiert, überarbeitet und die Astfragmente nunmehr entsprechend des neuen Lineamentes be- und verarbeitet. Das neue Lineament behält so lange seine Gültigkeit, bis ein reizvoller Ast einmal mehr die geplante Struktur in Frage stellt.

Um den Ästen während der Leim- und Trockenvorgänge einen Halt zu gewährleisten, werden Nägel, Klammern und ähnliche Hilfsmittel in den Styropor gestochen. Nachdem die Astfragmente komplett verleimt sind und das Astgeflecht seine endgültige Form angenommen hat, werden die Klammern und Nägel entfernt und der Styroporkern wird aus dem Inneren beseitigt. Erst jetzt kommt der durch das Astgeflecht definierte Raum zur Geltung. Auf diesen Raum wird noch einzugehen sein.

„Öl auf Holz“ – die Beschreibung des Arbeitsprozesses verdeutlicht es noch einmal – sind als Plastiken und nicht als Skulpturen aufzufassen. Von Skulpturen spricht man, wenn Material „abgetragen“, also von außen nach innen „hartes“ Material (lat. sculpere „schnitzen“, „meißeln“) entfernt wird, um zu einer Form zu gelangen; wie z.B. bei der Bild- „hauerei“, der Holz- oder– Horn- „schnitzerei“.[3] Bergmeiers Arbeiten entstehen durch „Antragen“, d.h. durch stetiges Hinzufügen von Material, in seinem Fall Holz, und sind als Plastik zu definieren.

2. „Öl auf Holz“ – ein Vergleich mit dem Rhizom

„Öl auf Holz“ – Material und Form wecken unwillkürlich Assoziationen an die Natur. Nicht nur das Ausgangsmaterial Holz ist natürlicher Herkunft, vor allem die Strukturen können ihre unmittelbare Verbindung zu Bäumen oder Sträuchern kaum leugnen. Wie ein archetypischer Reflex scheint das Baumschema in den Vordergrund zu rücken.

Die Psychoanalytiker Felix Guattari und der Philosoph Gilles Deleuze sehen die Ursache für die Reaktion auf botanische Strukturen in einer Art im Menschen verankerten Universalprinzip: „Seltsam, wie der Baum die Wirklichkeit und das gesamte Denken des Abendlandes beherrscht hat, von der Botanik bis zur Biologie, der Anatomie, aber auch Erkenntnistheorie, Theologie, Ontologie, der ganzen Philosophie…: der Wurzelgrund, Grund [im Original deutsch (A.d.Ü.)], roots und foundations.“[4]

Stellt man einen Vergleich zwischen dem Geflecht von „Öl auf Holz“ mit der Beschaffenheit von Bäumen bzw. Ästen an, wird ein Unterschied allerdings offensichtlich.


[3] Vgl. Olbrich, Harald u.a. (Hg.): Lexikon der Kunst. Architektur, Bildende Kunst, Angewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsttheorie. E.A. Seemann Verlag, Leipzig 2004, 2. Aufl. Bd. V, S. 633ff.
[4] Gilles Deleuze, Félix Guattari: Rhizom. Berlin 1977, S. 29f.


Während das Wachstum eines Baumes seinen Ausgang in einem Punkt findet und sich von dort aus in hierarchischem Wachstumsschema reproduziert, sind die gewebeartigen Strukturen in Bergmeiers Arbeiten mit- und ineinander verwachsen; sie bilden allesamt geschlossene, miteinander verbundene Schlaufen und Schlingen. Die netzartigen, ineinander verwachsenen Gefüge lassen sich mit dem so genannten Wurzelstock vergleichen, einem unterirdisch oder dicht über dem Boden wachsenden Sprossensystem mit kurzen, verdickten Sprossenachsen.

Derartig strukturierte Systeme bezeichnen Felix Guattari und Gilles Deleuze in ihrem Buch „Tausend Plateaus“ als „Rhizom“. Guattari und Deleuze definieren ihn wie folgt: „Als unterirdischer Sproß unterscheidet sich ein Rhizom grundsätzlich von großen und kleinen Wurzeln. Knollen und Knötchen sind Rhizome, Pflanzen mit großen und kleinen Wurzeln können in vielerlei Hinsicht rhizomorph sein; man muß sich wirklich fragen, ob nicht das Rhizomorphe gerade das Spezifische an der Botanik ausmacht. Auch die Tiere sind es, wenn sie Meuten bilden, z.B. die Ratten. Ein Bau ist in allen seinen Funktionen rhizomorph; als Wohnung, als Vorratslager, Rangiergelände, Versteck und Ruine.“[5] Im weiteren Verlauf ihrer Schrift sprechen Guattari und Deleuze nicht nur dem Pflanzen- und Tierreich rhizomatische Grundmuster zu, auch Sprache[6], Kartographie[7], Musik[8] etc. wird aufs Engste in Verbindung mit dem Rhizom gebracht. Schon diese Zuschreibungen lassen erahnen, daß der Begriff von verschiedenen Disziplinen aufgegriffen worden ist und bald Eingang in die entsprechenden Diskurse gefunden hat.[9]

Erstes Merkmal rhizomatischer Strukturen sind für die Franzosen die Prinzipien der Konnexion und der Hetereogenität. D.h. „jeder beliebige Punkt eines Rhizoms kann und muß mit jedem anderen verbunden werden. Ganz anders dagegen der Baum oder die Wurzel, wo ein Punkt und eine Ordnung festgelegt werden.“[10]
Mit der Vielheit führen Guattari und Deleuze ein weiteres Prinzip rhizomatischer Strukturen ins Feld: „nur wenn das Viele als Substantiv, als Vielheit behandelt wird, hat es keine Beziehung mehr zum Einen als Subjekt und Objekt, als Natur und Geist, als Bild und Welt. Vielheiten sind rhizomatisch und entlarven die baumartigen Pseudo-Vielheiten.“[11]
Desgleichen lassen rhizomatische Strukturen weder stabile Gegenstände noch einen linearen Rationalismus gelten; in „Rhizom“ lesen wir: „Das Rhizom ist eine Anti-Genealogie. Das Rhizom geht durch Wandlung, Ausdehnung, Eroberung, Fang und Stich vor. Im Gegensatz zu Grafik, Zeichnung und Photo, zu den Kopien bezieht sich das Rhizom mit seinen Fluchtlinien auf eine Karte mit vielen Ein- und Ausgängen; man muß sie produzieren und konstruieren, immer aber auch demontieren, anschließen, umkehren und verändern können.“[12]


[5] Rhizom, S. 11.
[6] Rhizom, S. 11f.
[7] Rhizom, S. 20.
[8] Rhizom, S. 11f.
[9] Insbesondere im Zusammenhang mit dem Aufkommen der weltweiten digitalen Vernetzung und der hieraus resultierenden Diskussion findet sich der Begriff häufig. Z.B. in Martin Stingelin: Das Netzwerk von Deleuze. Immanenz im Internet und auf Video. Berlin 2000. Zum Rhizom im Kontext zeitgenössischer Kunst, vgl. auch: Thomas Wulffen: Der gerissene Faden. Nichtlineare Techniken in der Kunst. In: Kunstforum Bd. 155, Juni-Juli 2001, Ruppichteroth 2001, S. 46-119 sowie S. 164-216.
[10] Rhizom, S. 11.
[11] Rhizom, S. 13.
[12] Rhizom, S. 34f.


Auch wenn die Merkmale rhizomatischer Prinzipien, wie Konnexion und der Hetereogenität, Vielheit sowie „Anti-Genealogie“ eine Metapherbildung zu anderen Bereichen der Wirklichkeit nahelegen, liegt das nicht im Sinne von Guattari und Deleuze. Letzterer lehnt explizit eine Metaphernbildung ab: „Wir machen absolut keinen metaphorischen Gebrauch von diesen Begriffen […]. Wir meinen das so, wie wir es sagen. Buchstäblich.“[13] Das Rhizom bilde vielmehr eine ontologische Kategorie, welche die „Struktur“ von Sein und Welt beschreibt. Die Welt ist also nicht wie ein Rhizom, sie ist ein Rhizom oder sie macht Rhizom. In den Analogien aus dem Naturreich sehen die beiden Autoren ihre Philosophie bestätigt.
Guattari und Deleuze lehnen also eine direkte Translation ihrer Philosophie auf andere Wirklichkeitsebenen ab.[14] Die folgende Aufforderung verdeutlicht ihre, von Analogieschlüssen gelöste philosophische Grundintension: „Bildet Rhizome und keine Wurzeln, pflanzt nichts an. Sät nichts aus, sondern nehmt Ableger! Seid weder eins noch multipel, seid Mannigfaltigkeiten. Zieht Linien, setzt nie einen Punkt! Geschwindigkeit macht den Punkt zur Linie. Seid schnell, auch im Stillstand! Glückslinie, Hüftlinie. Lasst keinen General in euch aufkommen!“[15]

Hinter dieser Aufforderung verbirgt sich ein Angriff auf das symbolische Denken als Inbegriff des Herrschaftsdenkens. Die politische Motivation wird vollends bei folgendem Zitat deutlich: „Der Staat als Modell für das Buch und das Denken hat eine lange Geschichte: der Logos, der Philosoph als König, die Transzendenz als Idee, die Innerlichkeit des Begriffs, die Gelehrtenrepublik, das Tribunal der Vernunft, die Sachverwalter des Denkens, der Mensch als Gesetzgeber und Subjekt. Die Anmaßung des Staates, das verinnerlichte Bild einer Weltordnung zu sein und den Menschen zu verwurzeln.“[16]

Es geht Guattari und Deleuze also um das Prozessieren, um das Dazwischen, um eine Denkhaltung menschlicher Subjekte. Sie verstehen Rhizom als anarchistischen Ausdrucksträger, hinter dem sich das Prinzip der generellen Ablehnung von Normativität verbirgt. Verbunden mit dieser antinormativen Grundhaltung fordern Guattari und Deleuze, daß das Netz immer offen gehalten wird.[17]

Selbst das Denken wird rhizomatischen Modalitäten unterworfen und dem Rhizom eine epistemologische Kategorie zugesprochen, die den Vorgang des Denkens und des Erkennens erhellt. Die Forderung von Guattari und Deleuze nach einer analogischen Herangehensweise („Der Baum und die Wurzel zeichnen ein trauriges Bild des Denkens.“[18]) haben eine Ablehnung des hierarchischen Systems zur Folge.

Wenn sich nach dem Diktum von Guattari und Deleuze auch ein Vergleich mit anderen Wirklichkeitsbereichen verbietet, kann dennoch ihre philosophische Grundhaltung der künstlerischen Intension Bergmeiers gegenübergestellt werden.


[13] Rhizom, S. 6.
[14] Auch Martin Stingelin ist der Überzeugung, daß z.B. der Cyberspace mit dem Begriffs- und Vorstellungsparadigmen Deleuzes nicht in Einklang zu bringen ist. Vielmehr besteht der Kern dieser Konzepte in ihrer „kritischen Widerstandskraft, Probleme aufzuwerfen.“ Ders. Das Netzwerk von Deleuze, S. 27.
[15] Rhizom, S. 41.
[16] Ebd., S. 40.
[17] Robert Maggiori spricht in diesem Zusammenhang von einem „Anti-System“. Vgl.: Gespräch über Tausend Plateaus. In Gilles Deleuze: Unterhandlungen. 1972-1990. Frankfurt a.M., 1993, S. 41 – 54, S. 49f.
[18] Rhizom, S. 26.


Die Kombination von Binnenraum und Astgewebe, der scheinbar entmaterialisierte Zwischenraum und das Material des Holzes bildet für die Betrachtung ein Scharnier, durch das Anschauung und Interpretation immer in Bewegung bleiben.

Die „Durchlässigkeit“ der Plastiken spiegelt ein „Dazwischen“; sie basiert weder auf gängige Wahrnehmungsschemata noch auf Reminiszenzen an die sichtbare Wirklichkeit. Im Gegenteil: die Werke erfordern eine unvoreingenommene Rezeption und Interpretation. Die Plastiken betrachtend ändert der Rezipient unwillkürlich seinen Standort und damit seine Perspektive, hieraus resultiert eine ständig wechselnde Wahrnehmung der sich überschneidenden, durch einen Binnenraum voneinander getrennten Astgeflechte. Das Paradigma der Multi-Perspektivität[19] wird einer ständigen Bewegung unterworfen. Die Plastiken nehmen keine feste Form an, sie unterliegen der Instabilität und Variabilität. Sie erlauben keinen definierten Zugriff und lassen sich nicht unmittelbar erschließen. Das Werk Bergmeiers entzieht sich jeder Definition. Das völlig offene System von „Öl auf Holz“ proklamiert letztlich eine antinormative Grundhaltung im Sinne von Guattari und Deleuze.

Bergmeiers Diktum, nach dem er mit seinen Arbeiten „den unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit“[20] sucht, entspricht darüber hinaus den Vorstellungen Guattaris und Deleuzes, nach denen die Welt weniger mit einem Rhizom zu vergleichen als sie vielmehr mit selbigem gleichzusetzen ist. Eben dieser „unmittelbare Zugang zur Wirklichkeit“ schließt eine Beziehung zum Einen als Subjekt aus, er basiert vielmehr auf Vielheit, auf rhizomatische Wandelbarkeit und Anti-Genealogie. In konsequenter Analogie der Rhizom-Theorie erreicht erst die ontologische Kategorie von „Öl auf Holz“ die Überwindung des „Tribunals der Vernunft“[21] und ermöglicht den unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit.

Überdies werden in der Gegenüberstellung der sich der Objektivität und Subjektivität gleichermaßen verpflichteten Theorie von Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela einerseits und der Radikalität Bergmeiers im Umgang mit der so genannten Wirklichkeit andererseits Aspekte seiner plastischen Arbeit deutlich.
Die beiden Chilenen stellen über die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens fest: „Wenn wir die Existenz einer objektiven Welt voraussetzen, die von uns als den Beobachtern unabhängig und die unserem Erkennen durch unser Nervensystem zugänglich ist, dann können wir nicht verstehen, wie unser Nervensystem in seiner strukturellen Dynamik funktionieren und dabei eine Repräsentation dieser unabhängigen Welt erzeugen soll. Setzen wir jedoch nicht eine von uns als Beobachtern unabhängige Welt voraus, scheinen wir zuzugestehen, daß alles relativ ist und daß alles möglich ist, da es keine Gesetzesmäßigkeiten gibt. […] Wieder müssen wir auf einem Grat wandern und vermeiden, in eines der Extreme – das repräsentationistische (Objektivismus) oder das solipsische (Idealismus) – zu verfallen.“[22]


[19] Die Philosophie von Guattari und Deleuze ist von einer ähnlichen Multiperspektivität gekennzeichnet. Deleuze führt hinzu aus: „Was Guattari und ich Rhizom nennen, ist genau ein solches offenes System. […] In Tausend Plateaus versuchen wir zu sagen: das Gute ist niemals sicher (beispielsweise genügt ein glatter Raum nicht, um die Einkerbungen und Zwänge zu überwinden) […] Manchmal ist ein neues Wort erforderlich, um einen Begriff zu bezeichnen, ein andermal greift man ein gewöhnliches Wort auf, und der Begriff gibt ihm einen singulären Sinn.“ Gilles Deleuze in: Gespräch über Tausend Plateaus, S. 51ff.
[20] Interview mit dem Autoren, 21.3. 2007.
[21] Rhizom, S. 50.
[22] Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Bern 1987, S. 259.


Vor dem Hintergrund der relativierenden Gratwanderung von Maturana und Varela erhellt sich der radikale Ansatz Bergmeiers: die Plastiken repräsentieren die sich ständig wandelnde, auf Vielheit basierende Subjektivität. Eine wie auch immer geartete Objektivität kommt für Bergmeier nicht in Betracht, weil alles dem Wandel und der subjektiven Selektion unterworfen ist. In diesem Zusammenhang spielt auch das „ästhetische Unbewußte“[23] eine wichtige Rolle, eröffnet es doch die Möglichkeit, ein – aus der Sicht des Künstlers – relevantes, unergründliches Destillat der Wirklichkeit für den Betrachter zu schaffen.

Die subjektive, multiperspektivische Selektion kommt letztlich auch in der Entwicklung der Werkreihe zum Ausdruck. Während sich zum Beispiel „Öl auf Holz“, Nr. 8 auf den Kupferstich Dürers „Melencolia, 1514“ bzw. auf den Rhomboiden bezieht, wird die eigene Matratze des Künstlers zum Ausgangspunkt für die nachfolgende Version von Öl auf Holz (Nr. 9); Nr. 13 und Nr. 15 haben ihren Ursprung in dem für Bergmeiers künstlerische Arbeit unverzichtbaren Gebrauchsgegenstand: die Maße eines Zollstockes dienten als Grundlage für diese Varianten von „Öl auf Holz“.

Der Künstler vermeidet sowohl systematische Herangehensweisen als auch kalkulierte Entwicklungsabläufe; kunsthistorische, erkenntnistheoretische Theorien oder philosophische Überlegungen, aber auch subjektive, individuelle und alltägliche Gegebenheiten dienen als Impuls. Nicht zuletzt diese analogische Herangehensweise bestätigt Bergmeiers Ablehnung eines hierachischen Systems im Sinne von Guattari und Deleuze, die über das Denken konstatieren, daß es „nicht baumförmig [ist], und das Gehirn ist weder eine verwurzelte noch eine verzweigte Materie.“[24]

Mannigfaltigkeit in Rezeptions- und Intensionsmöglichkeiten der Plastiken sowie das breite Spektrum der Impulse stimmen mit einem weiteren Prinzip des Rhizoms, mit dem der Vielheit überein. Vielheit ist jedoch nicht unbedingt als Quantität, als eine bestimmte Menge zu verstehen, vielmehr dient er dazu, eine wesentliche Eigenart, einen substantiellen Faktor zu artikulieren. Am Kleistschen Denken des Marionettenspiels wird dies verdeutlicht.[25] „Als Rhizom oder Vielheit verweisen die Fäden der Marionette nicht auf den angeblich einheitlichen Willen eines Künstlers oder Marionettenspielers, sondern auf die Vielheit seiner Nervenfasern.“[26]

In vergleichbarer Weise geht es Bergmeier weniger darum, Identifizierungsmöglichkeiten der Multidimensionalitäten umzusetzen, als vielmehr auf die Möglichkeiten als Prinzip hinzudeuten. Für Bergmeiers Arbeit trifft das zu, was Christian Jäger über die Vielheit bei Deleuze und Guattari erläutert: „Die Vielheit als reale und zugleich abstrakte Vielheit kann keinen Konsistenzplan bilden: eine sich ständig dimensional verändernde Vielheit läßt sich als solche nicht vom Menschen wahr-nehmen. Wahrnehmbar ist nur ein konkretes, multiples Ensemble […]. Dieser Plan der der Wahr-Nehmung und Gestaltung zugänglichen Vielheit ist derjenige der Konsistenz: das Raster möglicher, mehrdimensionaler Verknüpfungen, die aber nicht realisiert, sondern lediglich in ihrer Möglichkeit entzifferbar sind.“[27]


[23] Jacques Racière: Das ästhetische Unbewußte, Zürich 2006.
[24] Rhizom, S. 10.
[25] Vgl. Christian Jäger: Gilles Deleuze. Eine Einführung, München 1985, S. 149.
[26] Rhizom, S. 13.
[27] Jäger: Gilles Deleuze, S. 149.
Rhizom, S. 13.


3. Die Differenz

Die Multiperspektivität sowohl bezogen auf die Rezeption von Bergmeiers Plastiken als auch auf die Intension und die Impulse findet eine weitere Bestätigung im Begriff der Differenz.[28] „Die Philosophie von Deleuze&Guattari läßt sich als Philosophie der Differenz beschreiben“[29] und in seinem Hauptwerk „Differenz und Wiederholung“ räumt Gilles Deleuze mit dem Repräsentationsmodell auf. Nach seinen Worten wiederhole die Repräsentation die Gegenwart in einer nicht zu akzeptierenden Art und Weise. Die Dinge würden lediglich danach bewertet, wie nah oder fern sie einem Prinzip oder Urbild seien, anstatt sie danach zu beurteilen, ob sie das Vermögen besitzen, den ihnen angestammten Platz zu verlassen und zwischen den Grenzen zu springen: „Das Sein muß als Oberfläche par excellence begriffen werden, als reine Immanenzebene, auf der sich die Dinge bewegen, ohne einen vorgegebenen Plan zu verfolgen oder ein bestimmtes Ziel anzustreben.“[30]

An anderer Stelle heißt es: „Die Differenz und die Wiederholung sind an die Stelle des Identischen und des Negativen, der Identität und des Widerspruchs getreten.“ Die Differenz bricht also die für die Repräsentation der Welt stehende Vorherrschaft der Identität: „Das moderne Denken aber entspringt dem Scheitern der Repräsentation wie dem Verlust der Identitäten und der Entdeckung all der Kräfte, die unter der Repräsentation des Identischen wirken. Die moderne Welt ist die der Trugbilder [simulacres].“[31]

Vor dem Hintergrund des Differenzgedankens[32]von Guattari und Deleuze wird deutlich, wie Bergmeier mit seinen Arbeiten dem Verlust der Identitäten, den Trugbildern nachspürt und die Entdeckung all der Kräfte forciert, die unter der Repräsentation des Identischen wirken. Der Begriff der Differenz bietet für Deleuze, aber auch für Bergmeier eine Möglichkeit, die Dinge aus dem ihnen durch die Repräsentation vorgegebenen Raster zu befreien. Die Differenz stellt für sie jene Kraft dar, die bewirkt, daß sich das empirisch Vorhandene nicht darin erschöpft, lediglich als es selbst gegeben zu sein und auf seine Schematisierung durch Begriffe zu warten.[33]


[28] Eine lesenswerte Darstellung der von Deleuze verwendeten Begriffe „Differenz“ und „Repräsentation“ im Bezug zur Tradition der Philosophie, insbesondere bei Hegel, gelingt Marc Rölli. Ders.: Gilles Deleuze. Philosophie des transzendentalen Empirismus, Wien 2003, S. 251ff.
[29] Stefan Heyer: Deleuzes & Guattaris Kunstkonzept. Ein Wegweiser durch Tausend Plateaus. Wien 2001, S. 127.
[30] Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung, Frankfurt/Main 1997, S. 49.
[31] Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 51.
[32] Deleuze nennt im Zusammenhang mit „Differenz“ häufig den Begriff des „Nomadischen“. Friedrich Balke erläutert die Bedeutung des Nomadischen bzw. die Beziehung von Differenz und Nomadischem: „Die rückhaltlose Bejahung der Differenzen und ihrer Dynamik nennt Deleuze ‚nomadisch‘, weil sie sich in doppelter Hinsicht als widerständig erweisen: Weder gelingt es, ihnen durch eine vorgängige Aufteilung des Raumes feste Plätze in einer stratifizierten oder funktional differenzierten Ordnung zuzuweisen, sie also ‚seßhaft‘ zu machen, noch auch bieten sie eine Angriffsfläche für die nachträglichen Regulierungs- bzw. Normalisierungsmanöver, die sie als ‚Abweichungen‘ von einem Durchschnittswert […] konstituieren und ihnen eine Zone der legitimen Fluktuation zuordnen.“ Friedrich Balke: Den Zufall denken. Das Problem der Aleatorik in der zeitgenössischen französischen Philosophie, in: P. Gendolla, Th. Kamphusmann (Hg.): Die Künste des Zufalls, Frankfurt 1999, S. 48-76, S. 69. Eine Interpretation des Werkes von Bergmeier in Beziehung zum Nomadischen steht noch aus.
[33] Vgl. Friedrich Balke: Gilles Deleuze. Frankfurt/Main 1998, S. 31.


Die Thematik der Differenz leitet über zu Heidegger, der als Vordenker der Philosophie der Differenz gilt.[34] Der deutsche Philosoph hat sich mit seiner Schrift „Identität und Differenz“[35] gegen das Identische der abendländischen Philosophie seit Platon gewandt. Heidegger versteht die Differenz als das Selbe und nicht als das Identische: „Das Selbe deckt sich nie mit dem Gleichen, auch nicht mit dem leeren Einerlei des bloß Identischen. Das Gleiche verlegt sich stets auf das Unterschiedslose, damit alles darin übereinkomme. Das Selbe ist dagegen das Zusammengehören des Verschiedenen aus der Versammlung durch den Unterschied. Das Selbe läßt sich nur sagen, wenn der Unterschied gedacht wird.“[36]

Der Ursprung des Kunstwerkes

Im Kontext der Befragung menschlicher Existenz soll im Folgenden die Philosophie Heideggers herangezogen werden. War es doch der deutsche Philosoph, der den „Begriff der Eigentlichkeit des Daseins“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die philosophische Debatte brachte und diesen Anspruch unter die phänomenologische Parole „Zu den Sachen selbst“ stellte. Nicht nur dies, Heidegger zog auch die Kunst „in den hermeneutischen Grundansatz des Selbstverständnisses des Menschen in seiner Geschichtlichkeit […]“ mit ein.[37] In seinem ästhetischen Hauptwerk, das diesen Zugang ermöglicht, betont er gegen die Ästhetik Kants, die die ästhetische Erfahrung untersucht hatte, den Eigenwert des Kunstwerkes. Das Kunstwerk darf nach Heidegger nicht als ein Ding mißverstanden werden, das sich durch besondere Eigenschaften auszeichnet, wie etwa, daß es die Realität besonders gut oder schön abbildet. Vielmehr zeigt es das allgemeine Wesen der Dinge auf und eröffnet uns damit eine Sicht auf die Welt.

In welcher Weise für Heidegger ein Kunstwerk das allgemeine Wesen der Dinge und damit das Wesenhafte von Welt und Erde aufzeigt, verdeutlicht er am Beispiel eines griechischen Tempels. Seiner Auffassung nach vermag dieses Bauwerk die Kräfte der Natur zu Tage bringen:

„Dastehend ruht das Bauwerk auf dem Felsgrund. Dieses Aufruhen des Werkes holt aus dem Fels das Dunkle seines ungefügten und doch zu nichts gedrängten Tragens heraus. Dastehend hält das Bauwerk dem über es wegrasenden Sturm stand und zeigt so erst den Sturm selbst in seiner Gewalt. Der Glanz und das Leuchten des Gesteins, anscheinend selbst nur von Gnaden der Sonne, bringt doch erst das Lichte des Tages, die Weite des Himmels, die Finsternis der Nacht zum Vorschein. Das sichere Ragen macht den unsichtbaren Raum der Luft sichtbar. Das Unerschütterte des Werkes steht ab gegen das Wogen der Meerflut und läßt aus seiner Ruhe deren Toben erscheinen.“[38]

Heideggers Ausführungen führen vor Augen, wie der Tempel in seinem Dastehen dem Wesen der Erde ihr Gesicht verleiht. Erst indem das Werk eine Welt aufstellt, verhilft es der Erde zum Vorschein.


[34] Zum Verhältnis von Deleuze und Heidegger siehe u.a.: Alain Badiou: Deleuze – „Das Geschrei des Seins“, Zürich 2003, S. 34ff. sowie Marc Rölli: Gilles Deleuze, S. 203ff.
[35] Martin Heidegger: Identität und Differenz, Stuttgart 1996, 10. Aufl.
[36] Martin Heidegger: „…dichterisch wohnt der Mensch…“, in: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 193.
[37] Hans-Georg Gadamer: Zur Einführung. In: Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes. Stuttgart 1999, S. 93-114, S. 98.
[38] Heidegger: Vom Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt 1999, S. 38.


Was versteht Heidegger unter Erde? Was versteht er unter Welt?
Erde gibt sich seiner Auffassung nach nicht unmittelbar zu erkennen. Man wird sie nur über ein Kunstwerk gewahr und dann auch nur als ein verschlossenes Phänomen. Am Beispiel der naturwissenschaftlichen Untersuchung erläutert Heidegger die Unmöglichkeit der unmittelbaren Erfahrung von Erde: Zerkleinere, wiege und vermesse man einen Felsen, gelange man nicht in sein Inneres; analysiere man eine Farbe nach ihren Schwingungszahlen, komme man dem Wesen der Farbe, nämlich ihrem Leuchten, nicht näher. „Die Erde lasse so jedes Eindringen in sie an ihr selbst zerschellen. Sie lasse jede nur rechnerische Zudringlichkeit in Zerstörung umschlagen. Mag diese den Schein einer Herrschaft und des Fortschritts vor sich hertragen in der Gestalt der technisch-wissenschaftlichen Vergegenständlichung der Natur, diese Herrschaft bleibe doch eine Ohnmacht des Wollens. [39]

Das Kunstwerk hingegen unternehme keinen funktionalen Zugriff auf die Erde und lichte die Erde als sie selbst, „wo sie als die wesenhaft Unerschließbare gewahrt und bewahrt wird, die vor jeder Erschließung zurückweicht und d.h. ständig sich verschlossen hält.“[40] Mit dem Wesen der Erde ist also ein Sich-Verschließen selbiger verbunden. Wenn ein Kunstwerk also das Wesen der Erde zu Tage bringe, dann geschehe das nur in der Weise, dass die Erde als ein sich Verschließendes ins Offene gebracht werde.

Erde ist also das „Hervorkommend-Bergende“, sie ist „das zu nichts gedrängte Mühelos-Unermüdliche.“[41] Die Erde gibt sich in ihrem Wesen nur dort zu erkennen, „wo sie als die wesenhaft Unerschließbare gewahrt und bewahrt wird, die vor jeder Erschließung zurückweicht und d.h. ständig sich verschlossen hält.“[42] Die Erde ist also das „wesenhaft Sich-Verschließende“ und sie her-stellen, d.h. in einem Werk zur Geltung bringen, heißt: „sie ins Offene bringen als das sich Verschließende.“[43]

Die Beschreibung des Tempels macht noch etwas anderes deutlich: nicht nur die Erde als ein sich Verschließendes kommt zum Vorschein, auch wird eine Welt aufgestellt. Diese Welt hat man sich allerdings nicht als eine „Ansammlung der vorhandenen abzählbaren oder unabzählbaren, bekannten und unbekannten Dinge“[44] vorzustellen.

Während „Erde“ den passiven und bergenden Pol verkörpert, ist die Welt die aktiv lenkende Kraft. Sie bewahrt all jene Gesetzmäßigkeiten, die unserem Dasein einen Sinn geben: „Welt weltet und ist seiender als das Greifbare und Vernehmbare, worin wir uns heimisch glauben. Welt ist nie ein Gegenstand, der vor uns steht und angeschaut werden kann. Welt ist immer das Ungegenständliche, dem wir unterstehen, solange die Bahnen von Geburt und Tod, Segen und Fluch uns in das Sein entrückt halten. Wo die wesenhaften Entscheidungen unserer Geschichte fallen, von uns übernommen und verlassen, verkannt und wieder erfragt werden, da weltet die Welt.“[45] Die Welt versinnbildlicht also jene Gesetzmäßigkeiten, die seit jeher unser Leben bestimmen und die wir lediglich mittelbar erfahren.


[39] Heidegger, Ursprung, S. 43.
[40] Heidegger, Ursprung, S. 44.
[41] Heidegger, Ursprung, S. 43.
[42] Heidegger, Ursprung, S. 44.
[43] Heidegger, Ursprung, S. 44.
[44] Heidegger, Ursprung, S. 40.
[45] Heidegger, Ursprung, S. 41.


Die Wesenszüge eines Werkes bestehen für Heidegger also im „Aufstellen einer Welt“ und im „Herstellen der Erde“. Die Beziehung der „sich öffnende[n] Offenheit der weiten Bahnen der einfachen und wesentlichen Entscheidungen im Geschick eines geschichtlichen Volkes“ (Welt) und der „zu nichts gedrängte[n] Hervorkommen des ständig Sichverschließenden und dergestalt Bergenden“ (Erde) ist freilich eine dialektische: „Die Welt trachtet in ihrem Aufruhen auf der Erde, diese zu überhöhen. Sie duldet als das Sichöffnende kein Verschlossenes. Die Erde aber neigt dahin, als die Bergende jeweils die Welt in sich einzubeziehen und einzubehalten“[46]

Im Kunstwerk ereignet sich also ein Streit: „Aufstellend eine Welt und herstellend die Erde vollbringt das Werk diesen Streit. Das Werksein des Werks besteht in der Bestreitung des Streits zwischen Welt und Erde.“[47] Dieser Streit zwischen Welt und Erde im Kunstwerk ist freilich ein produktiver, denn „im Streit trägt jedes das andere über sich hinaus“[48] und verhilft ihm zu seinem eigenen Wesen: „Die Erde kann das Offene der Welt nicht missen, soll sie selbst als Erde im befreiten Andrang ihres Sichverschließens erscheinen. Die Welt wiederum kann der Erde nicht entschweben, soll sie als waltende Weite und Bahn alles wesentlichen Geschickes sich auf ein Entschiedenes gründen.“[49]

Jedoch führt dieses dialektische Mit- und Gegeneinander im Kunstwerk die Wahrheit zu Tage. Wahrheit will Heidegger allerdings weniger als „Richtigkeit“ (homoiosis) im Sinne Descartes verstanden wissen als vielmehr im Verständnis von „Unverborgenheit“ (alätheia). Das Wesen unseres Seins ist stets im Verborgenen: „Vieles am Seienden vermag der Mensch nicht zu bewältigen. Weniges nur wird erkannt. Das Bekannte bleibt ein Ungefähres, das Gemeisterte ein Ungefähres.“[50] Zum Wesen der Wahrheit als alätheia gehört das Verhülltsein; das Sich-Verschließen der Dinge ist Teil ihrer Wahrheit. Das Seiende ist wesentlich in sich verborgen und zur Auffindung der Wahrheit, d.h. zur Unverborgenheit des Seins gehört die Verweigerung der Wahrheit, d.h. des Entbergens. „Mit dem verbergenden Verweigern soll im Wesen der Wahrheit jenes Gegenwendige genannt sein, das im Wesen der Wahrheit zwischen Lichtung und Verbergung besteht.“[51]

Die Wahrheit als Unverborgenheit des Seienden, als Lichtung, wird erst im Kunstwerk zwischen Erde und Welt erstritten. Die Lichtung „west“ als offene Mitte, ist aber nicht vom Seienden umschlossen. Vielmehr umkreist die lichtende Mitte wie ein Nichts alles Seiende, das uns im Wesentlichen verschlossen ist. Heidegger bringt diese Dialektik auf folgende Formel: „Das Seiende kann als Seiendes nur sein, wenn es in das Gelichtete dieser Lichtung herein- und hinaussteht. […] Die Lichtung, in die das Seiende hereinsteht, ist in sich zugleich Verbergung.“[52]

Die Lichtung als Wahrheit, die Heidegger als alätheia, als Unverborgenheit verstanden wissen will, hat etwas von der Drift des Nichts. Die Lichtung macht das Seiende „un-seiend“, indem die in den „gelichteten“ Bezirk geratenen Dinge ihres gewohnten Daseins enthüllt.

Heideggers Streit zwischen Welt und Erde läßt also einem Wahrheitsbegriff der homoiosis, der „Richtigkeit“ keinen Raum. Er distanziert sich hiermit von einer Erkenntnistheorie, die im Sinne des Abbildrealismus das Werk mit dem überein stimmen läßt, was das Auge sieht.


[46] Heidegger, Ursprung, S. 46.
[47] Heidegger, Ursprung, S. 47.
[48] Heidegger, Ursprung, S. 46.
[49] Heidegger, Ursprung, S. 46.
[50] Heidegger, Ursprung, S. 51.
[51] Heidegger, Ursprung, S. 53.
[52] Heidegger, Ursprung, S. 51.


Stattdessen gründet das Wahrheitsverständnis Heideggers auf der „alätheia“ und damit auf der Abstraktion. Abstraktion als Erkenntnisprozess beim Übergang von der sinnlichen zur begrifflich-theoretischen Wirklichkeitsaneignung sieht vom konkret Wahrnehmbaren, von der sinnlichen Welt der Erscheinungen ab und steht damit auch in Verbindung zum „Nichts“. Denn der gewöhnliche Blick wird verneint, das „verhüllte Verhängnis“[53], das das Sein verhängt, wird gelichtet zugunsten der angestrebten Unverborgenheit des Seienden. Demnach zielt Abstraktion auf das innere Wesen der Welt.

Heideggers Vorstellung vom Auffinden der Wahrheit sieht inmitten des Seiendes eine Stelle, die sich auftut: „Eine Lichtung ist. Sie ist vom Seienden gedacht, seiender als das Seihende. Diese offene Mitte ist daher nicht vom Seienden umschlossen, sondern die lichtende Mitte selbst umkreist wie das Nichts, das wir kaum kennen, alles Seiende.“ [54]

Heideggers philosophische Überlegungen zum Auffinden der Wahrheit bzw. zum Seienden lassen sich auf Bergmeiers Werke und ihren Bezug zum Raum bzw. zum Nichts anwenden. Das signifikante Merkmal von „Öl auf Holz“ ist der vom Astgewebe umschlossener leere Raum, der zum entscheidenden Bestandteil der Plastiken ist. Stefan Waller merkt zu diesem leeren Raum an, dass „Öl auf Holz“ „[…] als das Weglassen von Volumen zu Gunsten einer Form verstanden, […] in ihrer radikalsten Ausführung eine Art vollständige Aussparung oder unbegrenzte Leerstelle [ist].“[55]

Diese Leerstelle ist von Bedeutung, nimmt sie doch eine Scharnier-Funktion ein. Erst sie ermöglicht das Ineinandergreifen verschiedener Ansichten der Astgeflechte und damit die Multiperspektivität der Plastiken. Der leere Raum ist Voraussetzung für den rhizomatischen Charakter der Plastik. Der leere Raum ist aber auch Bedingung für die reine Präsenz, auf die der Künstler mit seiner Arbeit abzielt.[56] Reine Präsenz, ein Zustand meditativer Versenkung, ist nur jenseits naturalistischer Vorstellungen und materieller Voraussetzungen möglich. Und jene Leerstelle evoziert den „Kontakt zum Raum an sich und zum Nichts.“[57] Der Fokus der Aufmerksamkeit wird also weniger gebündelt, als vielmehr ins sprachlose Verstehen und in eine Unbegrenztheit geöffnet. Im Sinne Heideggers repräsentiert die Leerstelle, die ungegenständliche Substanz die Welt in Bergmeiers Plastiken.

Die Materie wiederum determiniert einerseits das sprachlose Verstehen und die Öffnung ins Unendliche, stellt sie doch die materielle Hülle, die die Leere als solche erst wahrnehmbar macht. Andererseits unterminiert die Materie die reine Präsenz durch ihre Begrenztheit und ihre konkret wahrnehmbare Beschaffenheit. Bergmeier, der keinen funktionalen Zugriff auf die Erde unternimmt, rückt die Erde durch die de-konstruktive[58] Verwendung des Astmaterials als sie selbst in das Offene der Welt.


[53] Heidegger, Ursprung, S. 51.
[54] Heidegger, Ursprung, S. 51.
[55] Stefan Waller: Konstruktion und Wahrnehmung. In: Ausst.-Kat. 66 -03. Werke aus den Sammlungen Lafrenz und Reinking. Weserburg. Museum für moderne Kunst, Bremen 2007, o.S.
[56] Interview am 29. 05. 2007 mit dem Autoren
[57] Rolf Bergmeier: Öl auf Holzweg. Das Bild und seine Beziehung zur Wirklichkeit. Unveröffentlichtes Manuskript. O.S.
[58] Vgl. Waller.


Der Künstler folgt somit dem heideggerschen Diktum und lichtet die Erde als sich selbst gewahrende bzw. bewahrende, die als die wesenhaft Unerschließbare vor jeder Erschließung zurückweicht. Das Werk Bergmeiers lichtet – mit den Worten Heideggers – die Erde als sie selbst und stellt sie als die „wesenhaft Unerschließbare“ [59] auf, um sie vor jeder Erschließung zurückzuziehen.
Die Ambivalenz der Materie und der ungegenständlichen Substanz der Leerstelle im Werk von Rolf Bergmeier spiegelt den Streit zwischen Erde und Welt im heideggerschen Sinne.

In diesem dialektischen Mit- und Gegeneinander der Ambivalenzen schließlich tritt die Wahrheit zu Tage. Wie oben aufgeführt, gründet Heideggers Wahrheitsbegriff weniger auf „Richtigkeit“ (homoiosis) als vielmehr auf „Unverborgenheit“ (alätheia) und damit auf der Abstraktion. In dieser Weise setzt „Öl auf Holz“ den Erkenntnisprozeß in Gang und leitet vom konkret Wahrnehmbaren, dem Astgeflecht zum leeren Raum über.

„Doch wie können wir das Eigentümliche des Raumes finden“, fragt Heidegger in „Die Kunst und der Raum“. „Es gibt einen Notsteg“, so seine Antwort, „einen schmalen freilich und schwankenden. Wir versuchen auf die Sprache zu hören. Wovon spricht sie im Wort Raum? Darin spricht das Räumen. Dies meint: roden, die Wildnis freimachen. Das Räumen erbringt das Freie, das Offene […] Räumen ist Freigabe von Orten. Im Räumen spricht und verbirgt sich zugleich ein Geschehen.“[60] Räumen als Synonym für das „Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit“ definiert die Kunst als einen Ort, der sowohl öffnet als auch verbirgt. Als Gegenbegriff zum Ort setzt Heidegger die Leere. Leere und Ort wirken im Raum der Kunst zusammen und bilden das Pendant zu Welt und Erde.[61]

Wie oben ausgeführt, erstreiten Welt und Erde bzw. Leere und Ort die Unverborgenheit des Seienden und dieses offenbart sich nicht von selbst, sondern: „Durch das Sein geht ein verhülltes Verhängnis.“[62] Zum Wesen der Wahrheit als alätheia gehört also das Verhülltsein. Die Wahrheit ist nach Ansicht Heideggers „von der Verweigerung durchwaltet“[63] und für ihn besteht die Wahrheitssuche darin, dieses Verborgene als Verborgenes zu entbergen: „Mit dem verbergenden Verweigern soll im Wesen der Wahrheit jenes Gegenwendige genannt sein, das im Wesen der Wahrheit zwischen Lichtung und Verbergung besteht.“[64]

Wie Heidegger feststellt, ist es ein schmaler und schwankender Steg, der zum Räumen als Synonym für das „Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit führt; so lüftet der Streit in „Öl auf Holz“ zwischen Leere und Ort das „verhüllte Verhängnis“[65] nur für Augenblicke. Die durch das Gegenwendige evozierte Erhellung, die alätheia ist kein permanenter Zustand; vielmehr sendet die reine Präsenz dem nach Wahrheit suchenden Bewusstsein nur in flackernden Momenten Signale des unverborgenen Seienden.


[59] Heidegger, Ursprung, S. 44.
[60] Zitiert nach: Beat Wyss: Der Wille zur Kunst. Zur ästhetischen Mentalität der Moderne, 2. Aufl., Köln 1997, S. 74.
[61] Vgl. Beat Wyss: Der Wille zur Kunst , S. 75.
[62] Heidegger, Ursprung, S. 50f.
[63] Heidegger, Ursprung, S. 53.
[64] Heidegger, Ursprung, S. 53.
[65] Heidegger, Ursprung, S. 51.


Braunschweig, Oktober 2007
Dr. Sven Nommensen


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